Handel der Zukunft: das Kundenbedürfnis im Fokus
Die noch andauernde Covid-19 Krise ist, hinsichtlich ihrer ökonomischen Folgen, für die europäische und unsere deutsche Wirtschaft eine tiefgreifende Zäsur, wie es sie wohl seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr gegeben hat. Viele mittlere und kleine Betriebe aus unterschiedlichsten Handelsbereichen haben nach einer so langanhaltenden Zeit des Ausnahmezustandes, der Ungewissheit und der finanziellen Einbußen kaum noch Atem, um ihr leidenschaftliches Aufbäumen gegen den existentiellen Untergang fortzusetzen. Auch fallen die Zukunftsprognosen der Branchenvertreter vielfach noch sehr verhalten aus. Daran haben auch die mitunter schleppenden Hilfsprogramme der Bundesregierung nichts geändert, die für viele Betriebe weniger eine strukturelle und langfristig orientierte Hilfe bedeuteten, sondern eine an hohe und kaum erfüllbare bürokratische Auflagen geknüpfte, symptomorientierte Kurzfristhilfe auf Widerruf darstell(t)en. Eine Bestandsaufnahme von Trends, die nicht nur neue digitale Geschäftsmodelle zutage fördern, sondern auch für Lösungsanbieter neue Herausforderungen bedeuten.
E-Commerce mit Rückenwind
Aber jede Krise hat in der Regel immer auch etwas Lehrreiches, ja fast schon etwas Läuterndes für die betroffenen Marktteilnehmer. Das gilt insbesondere für den Handelssektor. Schlagartig gewann der E-Commerce durch die Lockdowns, Kontaktbeschränkungen und Auflagen im stationären Handel sowie im gesamten öffentlichen Leben enorm an Bedeutung. In einigen Sektoren des Handelsbereichs wurde die richtige Strategie im Grunde schon zum Überlebensmittel. Insofern ist es auch verwunderlich, warum so viele hiesige Unternehmen in der Vergangenheit diesen Kanal so sträflich vernachlässigt haben. Es waren vielmehr etablierte Handelsketten im Fashion- und Konsumgüterbereich (beispielsweise u. a. Douglas, Zara, TALLY WEiJL, Pull&Bear etc.), die schon vor der Krise eine klare E-Commerce-Strategie verfolgt hatten und dadurch etwaige Einbußen im stationären Handel ein Stück weit kompensieren konnten.
Aber auch das wäre nicht möglich gewesen, wenn nicht wesentliche Erfolgsfaktoren innerhalb der betrieblichen, systemisch abgebildeten Abläufe (und hier kommen die ERP-Lösungen ins Spiel) berücksichtigt worden wären. Dazu gehören insbesondere Preis, Lieferzeiten, Service und die Qualität der Produkte – diese Aspekte entscheiden auf Kundenseite maßgeblich über Kaufentscheidungen und den Erfolg im Einzelhandel, Großhandel und E-Commerce. Demgegenüber sind es vor allem automatisierte Prozesse und durchgängige Informationsflüsse, die auf Seiten der
Handelsunternehmen kritische Faktoren darstellen, um die wachsenden Anforderungen von Kunden und Lieferketten effizient zu bewältigen. Die Integration von Shop-Systemen mit dem ERP-System, um Daten im Shop in möglichst automatisierter Form auf dem aktuellsten Stand zu halten, sowie die Anbindung eines einfachen und zuverlässigen Zahlungsabwicklungs- und Versandsystems sind im E-Commerce wichtige Einflussgrößen für ein positives Kauferlebnis als Voraussetzung für die Kundenbindung und wiederkehrende Käufer.
Und sind wir mal ehrlich: Schon in den vergangenen Jahren wurden von Jahr zu Jahr regelmäßig erheblich mehr stationäre Geschäfte geschlossen als eröffnet – zugunsten des E-Commerce Geschäftes. Die Auswirkungen der Pandemie haben diese Entwicklung gar noch massiv beschleunigt. Zwar haben sich die Verkaufszahlen im stationären Handel nach den Lockdown Phasen teilweise erholen können, doch dürfte dies auch dem Umstand zuzuschreiben sein, dass Konsumenten längere Zeit auf das physische Einkaufserlebnis verzichten mussten. Insofern muss man mit zum Teil kurzfristigen Effekten rechnen. Laut Statista hat das Onlinegeschäft mit Waren in Deutschland im vergangenen Jahr 2021 rund 99 Mrd. Euro erwirtschaftet – ein Plus von rund 19 % gegenüber dem Vorjahreszeitraum 2020.
Diese Entwicklung untermauert auch eine SoftSelect-Studie, die von Juli 2021 bis November 2021 unter 2.273 Personen im Alter von 31 bis 49 Jahren durchgeführt wurde. Demnach gaben 68,9 % der befragten Erwachsenen an, dass sie vor der Coronakrise vornehmlich stationär eingekauft haben. Diese Zahl hat sich aktuell auf immerhin 40,5% reduziert. Die befragten Personen gaben darüber hinaus an, dass sie bestehende Vorbehalte gegenüber dem Online-Kauferlebnis abbauen konnten. Als einzig problematisch wurde jedoch beurteilt, dass bei vielen Shops immer wieder ein separater Anmeldevorgang durchgeführt werden musste und die Regularien für Rückgaben voneinander abweichen konnten. In Bezug darauf wurden Handelsplattformen wie Amazon, Aliexpress (Alibaba) oder Zalando klar im Vorteil gesehen.
Kostenloser Versand und schnelle Lieferung („instant delivery“)
Der kostenlose Versand ist für die meisten Online-Einkäufer ein wichtiger Faktor. 87,5% der befragten Personen gaben in der SoftSelect Studie an, dass sie sogar noch mehr online kaufen würden, wenn die Rücksendung der Waren bei Nichtgefallen kostenlos wäre. Interessant ist, dass ca. 24,5% der Untersuchungsteilnehmer einräumten, dass auch zusätzliche Waren bezogen würden, um in den Genuss des kostenlosen Versands zu kommen. SoftSelect-Untersuchungen zeigen überdies, dass Unternehmen mit kostenlosem Versandangebot um mehr als 30,0% höhere Konversionsrate haben als Unternehmen ohne.
Der wesentliche Lernprozess für die „jungen“ Online-Shopper besteht darin, dass die Erwartungen an den Kaufprozess und das damit einhergehende Erlebnis an die neuen Rahmenbedingungen angepasst werden müssen. Zwischen finaler Kaufentscheidung und dem eigentlichen Kauferlebnis entsteht im Online-Bereich ein Zeitversatz. Da eine „Real Time Experience“ bisweilen nicht möglich ist, kommt der Schnelligkeit der Lieferung eine hohe Bedeutung zu.
Der Faktor Zeit ist in etwa vergleichbar mit dem Aufladen eines E-Autos im Gegensatz zum Auftanken eines konventionellen Verbrenners. Genau diese Kluft haben Dienstleister, wie z. B. der Lieferdienst GORILLAS im Lebensmittelbereich, erkannt und bemühen sich mit innovativen Ansätzen genau diese zeitliche Lücke auf ein Minimum zu reduzieren. Sie machen sich damit zum unverzichtbaren Partner des Online-Handels und werden gleichsam auch zum Erfolgsfaktor für die E-Commerce-Strategien ihrer Partner. Aber auch Amazon arbeitet mit ihren eigenen „delivery service units“ daran, die Waren schnellstmöglich zu den Konsumenten zu bringen.
Folglich ist ein wesentlicher Knackpunkt in Punkto Customer Experience die Schnelligkeit, Reibungslosigkeit und Einfachheit des gesamten Kauf- und (sehr wichtig) des Rückgabeprozesses. Dies gilt insbesondere, da die Quote der retournierten online erworbenen Artikel um eine vielfaches höher ist als im stationären Handel.
Professionelles Retouren Management
Schon heute wird rund ein Viertel der online gekauften Artikel zurückgeschickt – ein Trend, der sich in den vergangenen Jahren gar immer weiter verstärkt hat. Aber auch das Konsumverhalten ändert sich. Aufgrund der vielfach angebotenen kostenlosen Retouren lassen sich Kunden Artikel oftmals gleich in verschiedenen Ausführungen zur Ansicht schicken, um am Ende nur einen oder wenige Artikel zu behalten. Die wachsende Zahl an Retouren ruft nicht nur die Bundesregierung auf den Plan, die bereits eifrig Richtlinien zur Eindämmung von Online-Retouren prüft, sondern auch zahlreiche Dienstleister, die immer häufiger in Anspruch genommen werden. Retouren-Fulfillment-Dienste wie etwa Returnista, Metapack oder Apiando wickeln Rückgabeprozesse eigenständig ab, um Prozesse zu automatisieren, Abwicklungskosten zu reduzieren und wichtige Insights zur Verbesserung der Retourenquoten zu liefern.
Etablierung von Self-Checkouts gegenüber POS im Shop
Bei der Neugestaltung vieler Ladenlokale stellt man fest, dass Selbstbedienungskassen in Verbindung mit kontaktlosen Zahlungen mehr und mehr Einzug halten. Gerade während der Coronakrise nutzten viele (42,1%) der von SoftSelect befragten Personen mehr als sonst Self-Checkouts in Baumärkten (z. B. Hornbach und BAUHAUS), Supermärkten (wie Edeka, Kaufland) oder Möbelgeschäften (siehe IKEA).
Kontaktloses Zahlen
Die Entwicklung in Richtung kontaktloser Bezahlvorgänge war bereits vor der Corona Pandemie spürbar, doch wurde sie durch die Krise (notgedrungen) 2020/21 auf Kundenseite noch populärer. Der bisherige Hemmschuh für die hierzulande noch etwas verhaltene Nutzung waren die z. T. hohen Gebühren der Dienstleister, die dazu führten, dass gerade in Deutschland vielfach nur EC-Karten und weniger Kreditkarten im Handel akzeptiert wurden. Diese Situation hat sich mittlerweile deutlich verändert. Der Anspruch und die Erwartung der Verbraucher spricht deutlich für eine intensivere Nutzung und Bereitstellung kontaktloser Zahlmöglichkeiten.
Einbettung von KI in Handels-ERP auf dem Vormarsch
Die Nutzung von KI in Betrieben setzt sich zunehmend durch und wurde durch Corona sogar sichtlich beschleunigt. Die Anwendungsbereiche reichen von der Analyse und Prognose des Kaufverhaltens, Kontrolle der Lieferketten und Optimierung des Bestandsmanagements über individualisierte und dynamische Kundenansprachen, visuelle Kuration und intelligente Kaufempfehlungen bis hin zu personalisierten Ansprachen oder der Einbettung interaktiver Chat-Funktionen (inkl. dialogbasiertem Support). Nach Aussage von ca. 89,2% der von SoftSelect befragten Online-Shopper kommen Chatbots fast regelmäßig während des Kauf(anbahnungs-)prozesses oder im After-Sales-Service zum Einsatz.
Und wie gelingt eine erfolgreiche E-Commerce-ERP-Integration?
Ausgesprochen bedeutsam ist die Schnelligkeit bei der Bereitstellung und dem Transfer von Informationen, beispielsweise der Abgleich von Kundenprofilen und den daraus ableitbaren
Produktpräferenzen in Verbindung mit der gleichzeitigen Überprüfung von Lagerbeständen und Produktverfügbarkeiten. Durch die Echtzeit-Bereitstellung von Bedarfs- und Angebots-Daten kann ein Online- oder Multi-Channel-Handelsunternehmen Marktentwicklungen und das Nachfrageverhalten leichter antizipieren und zum eigenen Vorteil nutzen.
Dabei sollten ERP-Lösungen für den (Online-)Handel insbesondere folgende Aspekte unterstützen:
- Funktionen zur dynamischen Verbesserung des Omnichannel-Marketings
- Prädiktive Analyse von Kundenvorgängen und Marktentwicklungen
- Skalierung des Auftragsvolumens ohne Effizienzverluste
- Senkung der Lagerkosten durch Just-in-Time-Orders und Streckengeschäfte
- Standardisierung von Vertriebs- und Logistikprozessen
- Verbesserung von Produktvorschlägen auf Basis von vergleichbarem Kaufverhalten
- Reduzierung von Doppeleingaben und damit Redundanzen
- Verbesserung der Kundenzufriedenheit und des Einkaufserlebnisses
- KI-basierte Analyse von kaufmännischen Parametern in Echtzeit.
SoftSelect geht davon aus, dass in 2024 bereits mehr als 75% aller E-Commerce-Trades über mobile Endgeräte abgewickelt werden. Das bedeutet, dass Unternehmen ihren Kunden auf allen Geräten das gleiche Kauferlebnis bieten müssen. Das lässt erahnen, dass auch rein monolithische ERP-Ansätze den wachsenden Anforderungen nach offenen, plattformübergreifenden und flexibel erweiterbaren Anwendungslandschaften kaum mehr gerecht werden können.
Zukunft des E-Commerce
Für B2C- und B2B-Unternehmen gewinnen vor allem die Bereiche Customer Experience, kundenpersonalisierte Ansprache auf allen Ebenen, Nachhaltigkeit und Umweltbewusstsein sowie die stetige Einbindung moderner Technologien weiter an Bedeutung. Das Verständnis von E-Commerce und die Verbesserung bzw. Präzisierung von Strategien dürften sich auch in den kommenden Jahren dynamisch weiterentwickeln und zu einer synergetischen Nutzung von Erkenntnissen aus den unterschiedlichsten Bereichen führen (Finance, Marketing, Social Media, Marketing, F&E). Dank der zunehmenden KI-basierten Vorhersageinformationen werden sich die Handelsunternehmen aber mehr auf proaktive Strategien konzentrieren können, um Kundenbedürfnisse besser erkennen und erfüllen zu können – nach Möglichkeit noch bevor der Kunde sein Bedürfnis für sich identifiziert und in Aktion tritt.
Autor: Michael Gottwald, Geschäftsführer des Hamburger Marktforschungs- und IT-Beratungshauses SoftSelect GmbH.